Dreizehn rauf und runter

Damals haben die Sommer ewig gedauert. Es passierte so viel.
1998 bin ich 13 und höre «13» rauf und runter, das neue Album der Ärzte. «Männer sind Schweine; meine Freunde stehn auf S und M; weil ich Schlagzeuger bin.» Wochenlang rotiert keine andere CD in meiner SONY-Kompaktanlage. Nebenbei mache ich eilig und schlampig Hausaufgaben und spiele dann stundenlang «Sim City 2000». Eigentlich sollte ich Mathe lernen, mache es aber nicht; ich hasse Mathe, weil mich die Zahlen quälen.
Und ich habe Besseres zu tun.


1998 bin ich 13 und will nur eine: Franziska K.
Auf Jans 13. Geburtstag darf ich sie endlich küssen – beim Flaschendrehen zeigt der Flaschenhals auf mich. Meine Lippen berühren ihre Wange und der Duft von CK One liegt Luft. Dass ich sie mag, also wahrscheinlich liebe, weiß sie: Ihrke hat es ihr gesagt – hat es ihr einfach verraten. Fröhlich hat er hinausposaunt: «Der findet dich gut!»
Und Franziska hat nur geantwortet: «Ich weiß.»
Später ist sie mit Jan zusammen (und dann ist Jan mit Katharina zusammen, die vorher mit Nils ging).
Jan ist der glücklichste Junge der Welt. Er wohnt unterm Dach in einem großen Haus. Wir hocken dort zusammen in seinem Zimmer und töten Dinosaurier; wir sind Turok. Danach laufen wir durch den Garten und kokeln. Jans Mutter rastet aus und brüllt ihr Kind an. Zwanzig Jahre später wird sie sich verlieren. Und Franziska wird Hendrik heiraten, mit ihm Kinder kriegen, und Jan wird kein Studium anfangen, obwohl er Abitur gemacht hat. Glücklich bleibt er trotzdem.


1998 bin ich 13 und stehe in New York City.
In der Schule zeige ich später die Fotos, denn Sara und Franziska wollen mir nicht glauben. Doch die Bilder beweisen: Ich stehe auf dem World Trade Center, das es ein paar Jahre später nicht mehr geben wird.
Am 11. September 2001 kommt Frank in mein Zimmer und sagt, dass ein Flugzeug ins WTC geflogen sei. Ich denke an eine Cessna und irre mich gewaltig. Frank ist nicht mein Vater, nicht mal ein Ersatz. Aber er lebt jetzt bei uns. Acht Jahre später wird er einen Hirnschlag erleiden; auch er wird sich verlieren.
Am 11. September 2001 mache ich gerade mein Aquarium sauber und dann den Fernseher an. Ich sehe das Loch im Turm, den Rauch in der Luft. Menschen fallen hinab. Sterben. Die Simpsons entfallen an diesem Dienstag und am nächsten Tag wird Herr Steins eine improvisierte Rede halten. In der Schweigeminute glotzen wir dümmlich auf die Tische. Jetzt nur nicht lachen, sondern einmal ernst bleiben! Danach lernen wir Französisch, oder lernen es halt nicht.


1998 bin ich 13 und höre «13» rauf und runter.
Jedes zweite Wochenende geht’s zu meinem Vater. Sitze dort und muss für Deutsch ein Gedicht auswendig lernen:

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Garten stand

Herr Montag hört am Montag zu, wie ich die Zeilen mühsam vortrage. Jahre später – ich bin fast 31 – sehe ich ihn in der Straßenbahn sitzen: Mein ehemaliger Deutschlehrer erkennt mich nicht; dieser alte Herr mit Brille und grauem Bart, der mich damals zum Schreiben ermuntert hatte. Seine Todesanzeige sehe ich dann zufällig in der Zeitung. Nichts dauert ewig, es fühlt sich manchmal nur so an. Besonders in diesem einen Sommer, als ich 13 war und «13» rauf und runter hörte.


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